Die Statik eines Tragwerkes muss sowohl den Abtrag von Vertikallasten als auch den Abtrag von Horizontallasten aus Wind, Imperfektionen und ggf. Erdbeben durch Aussteifungsbauteile gewährleisten. Die Beurteilung der Aussteifung und die Verteilung der horizontalen Einwirkungen auf die Aussteifungsbauteile kann je nach Gebäudegeometrie und Bauweise mit verschiedenen Methoden bewerkstelligt werden. Die Anwendung vereinfachter Verfahren ist an gewisse Kriterien geknüpft. Bei Unregelmäßigkeiten in der Anordnung der aussteifenden Elemente stoßen die klassischen Berechnungsverfahren an ihre Anwendungsgrenzen.
Bei der Modellierung eines Aussteifungssystems mithilfe des MicroFe-Grundmoduls "M130.de MicroFe 3D Aussteifung - Massivbau-Aussteifungssysteme" wird das statische System wirklichkeitsgetreu abgebildet. Die Verteilung der Lasten erfolgt gemäß der Steifigkeitsverteilung am Gesamtsystem. Somit können auch Tragwerke in gemischter Bauweise nachgewiesen werden. Mit dem Modul "M357.de" steht zusätzlich zu den Materialien Stahlbeton, Stahl, Mauerwerk und Brettsperrholz das neue Holzbauteil „Ständerwand“ zur Verfügung. Im Folgenden werden das dem Bauteil zugrunde liegende Materialmodell sowie der Arbeitsablauf einer Aussteifungsberechnung bei Verwendung von M130.de behandelt.
Modellierung der vertikalen Bauteile
Vorlagen für Holz-Ständerwände
Ermittlung der Horizontallasten
Horizontale Ersatzlasten infolge Imperfektion
Das Tragverhalten einer Holz-Ständerwand wird durch das Zusammenwirken der Einzelbestandteile Rippen, Beplankung und Verbindungsmittel bestimmt. In MicroFe wird das vom Wandaufbau abhängige Tragverhalten auf ein ebenes Schalenelement mit orthotropem Materialverhalten übertragen. Zur Herleitung des in MicroFe verwendeten Materialmodells wird zunächst das Trag- und Verformungsverhalten einer Wandtafel betrachtet. Die Ausführungen beschränken sich hierbei auf die für eine Aussteifungsberechnung relevanten Scheibensteifigkeiten.
Das Trag- und Verformungsverhalten einer Holz-Ständerwand als "ideelle Scheibe" kann mit der Schubfeldtheorie beschrieben werden [1].
Voraussetzungen für die Annahme einer ideellen Scheibe sind im Falle einer Holztafel unter anderem:
· Unterstützung aller Ränder durch Rippen
· Kontinuierliche Verbindung von Rippen und Beplankung über Verbindungsmittel
· Beplankung beult nicht aus
Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Schubfeldtheorie ist zudem, dass Rippen und Beplankung im Verhältnis zu den Verbindungsmitteln sehr steif sind. Die Traglast der Wandtafel wird durch die Tragfähigkeit der Verbindungen bestimmt.
Eine am Wandkopf angreifende Kraft H wird über den Rähm kontinuierlich in die Beplankung eingeleitet. Über eine gleich große Gegenkraft wird die Last H an der Schwelle aufgenommen. Der zugehörige Schubfluss sv,0 am oberen und unteren Rand beträgt:
Das Versatzmoment H*h wird durch ein Kräftepaar V aufgenommen. Der Schubfluss an den äußeren Rändern beträgt bei kontinuierlicher Einleitung über die Höhe:
Die Schubspannungen sind demnach an allen Rändern gleich groß.
Das beschriebene Tragverhalten kann sich nur bei ausreichender Verankerung der abhebenden Kraft einstellen.
Zur Ermittlung der Scheibenschubsteifigkeit einer Wandscheibe wird zunächst das Verformungsverhalten infolge horizontaler Beanspruchung unter Berücksichtigung folgender Verformungsanteile bestimmt:
· Schubverformung der Beplankung
· Nachgiebigkeit der Verbindungsmittel
· Normalkraftbeanspruchung der Rippen
Verformungsanteile infolge der Nachgiebigkeit der Verankerung können mithilfe von Wandgelenken berücksichtigt werden.
Die Kopfverformung uG infolge der Schubverformung der Beplankung wird folgendermaßen berechnet:
Die horizontale Verformung infolge der Nachgiebigkeit der Verbindungsmittel wird nach Gleichung (4) bestimmt. Zur Ermittlung des Verschiebungsmoduls kser,1 werden Angaben zu Verbindungsmittelart, -abstand und -durchmesser sowie zur mittleren Rohdichte der miteinander verbundenen Holzwerkstoffe benötigt.
Die Normalkraftbeanspruchung der Rippen führt ebenfalls zu einer Verschiebung des Wandkopfes. Unter der Annahme einer kontinuierlichen Lasteinleitung der Last H in die Kopfrippe können die Verformungsanteile von Rähm und Schwelle vernachlässigt werden. Die Verformung kann in ausreichender Näherung folgendermaßen bestimmt werden:
Die gesamte Kopfverformung ergibt sich schließlich zu:
Die Beziehung zwischen Schnittgrößen, Scheibensteifigkeiten und Verformungen lautet in Matrixschreibweise folgendermaßen:
Mit der Kenntnis der Schubverformung am Tafelkopf uges wird nun unter Annahme eines Ersatzstabes auf das Schubmodul G* rückgeschlossen.
Dieses wird schließlich in die Schubsteifigkeit des Schalenelements überführt.
Die Dehnsteifigkeiten Dx und Dy berücksichtigen neben der Beplankung die Rippen, die in der jeweiligen Richtung angeordnet sind.
Die Normalsteifigkeit in x-Richtung Dx setzt sich somit aus den Anteilen der Beplankung, des Rähm und der Schwelle folgendermaßen zusammen:
Analog wird die Normalsteifigkeit Dy unter Berücksichtigung der Beplankung, der Rand- und Innenrippen wie folgt berechnet:
Bei der Modellierung des Aussteifungstragwerkes mit M130.de wird für Stützen- und Wandbauteile in den Positionseigenschaften im Register "Aussteifung" festgelegt, ob sich diese am Abtrag der Horizontallasten beteiligen sollen. So sind beispielsweise kurze Wände in Bezug auf die Aussteifung wenig wirksam und können gezielt aus der Lastverteilung der Horizontallasten ausgeschlossen werden. Aus dieser Festlegung ergeben sich entsprechende Annahmen zur mechanischen Modellierung. Die in den Vorlagen automatisch gesetzten Eigenschaften zur Erzielung des gewünschten Tragverhaltens sind auf die Besonderheiten der verschiedenen Werkstoffe abgestimmt. Alternativ kann die Modellierung durch Wahl manueller Steifigkeitsabminderungen und manueller Gelenkdefinitionen individuell angepasst werden. Eine ausführliche Darlegung der Vorlagen für die Materialien Stahlbeton und Mauerwerk können [2] und für Brettsperrholz [3] entnommen werden.
Die aussteifende Wirkung von Wänden beruht vorwiegend auf deren Scheibentragwirkung. In Plattenrichtung ergibt sich nur ein geringer Beitrag zur Steifigkeit des Gesamtsystems. Ein nahezu reines Scheibentragverhalten der Holz-Ständerwände wird durch die Anordnung von Momentengelenken an Wandkopf und Wandfuß erzielt. Zur Vermeidung beweglicher Systeme werden kleine Reststeifigkeiten für diese Gelenke generiert.
Für die realitätsnahe Abbildung des Tragverhaltens von Holzbauwerken ist die korrekte mechanische Modellierung der Wand-Decken-Anschlüsse von großer Bedeutung. Im Kapitel "Aussteifung" der Wandeigenschaften stehen Eingabefelder für die Schub- und Translationssteifigkeit des Anschlusses zur Verfügung.
Als nicht aussteifend definierte Wände erhalten ein Schubkraftgelenk am Wandkopf, das die Übertragung von Kräften in Längsrichtung verhindert. Dadurch entziehen sich diese Bauteile weitgehend der Lastverteilung infolge horizontaler Beanspruchung.
Für eine vollständige und normgerechte Ermittlung der Windlasten empfiehlt sich die Verwendung des MicroFe-Moduls "M031.de Lastmodell Gebäudehülle für MicroFe und EuroSta". In Abhängigkeit der Windlastzone, des Gebäudestandorts und der Dachform werden die Windlasten für das Gesamtgebäude ermittelt und auf die Bauteile verteilt. Für jede Gebäudeseite lassen sich einzelne Lastanteile aktivieren oder deaktivieren. Bei einer Aussteifungsberechnung bietet sich in der Regel die automatische Verteilung der Lasten auf die Deckenränder an. Alternativ zu dem Lastmodell Gebäudehülle können Windlasten auch manuell mithilfe der Standardlasten an beliebiger Stelle vorgegeben werden.
Unregelmäßigkeiten in Gebäudegrundrissen erfordern die Anwendung des multimodalen Antwortspektrenverfahrens, bei dem alle maßgeblichen zur Bauwerksreaktion beitragenden Modalanteile bei der Berechnung der Kraft- und Verformungsgrößen des Tragwerks berücksichtigt werden.
Die Module "M510 Grundfrequenz, Grundschwingformen" und "M513 Erdbebenuntersuchung für MicroFe und EuroSta" eignen sich optimal als Ergänzung zu dem Modul M130.de. Diese ermöglichen eine komfortable Ermittlung der statischen Ersatzlasten infolge seismischer Erregung.
Einflüsse aus unplanmäßiger Imperfektion werden bei einer Aussteifungsberechnung durch Ersatzlasten berücksichtigt. Der spezielle Lastpositionstyp "Horizontale Ersatzlast" des M130.de erfasst die Vertikallasten in einem definierten Auswertungsbereich. Mit den entsprechenden Vorgaben zur Schiefstellung werden die Ersatzlasten automatisch ermittelt.
Mithilfe der Standardlasten Punkt-, Linien- und Flächenlast können zudem weitere Horizontallasten manuell vorgegeben werden.
Das Ziel der Labilitätsuntersuchung ist es, nachzuweisen, dass die Verteilung der horizontalen Lasten aufgrund ausreichender Steifigkeiten nach Theorie I. Ordnung erfolgen darf.
Es gilt hierfür nach DIN EN 1992-1-1, 5.8.2 (6) [1] folgendes Kriterium zu überprüfen: "Die Auswirkungen nach Theorie II. Ordnung dürfen vernachlässigt werden, wenn sie weniger als 10 % der entsprechenden Auswirkungen nach Theorie I. Ordnung betragen."
Als bemessungsmaßgebende Auswirkungen werden im Modul M130.de die Momente an Wand- und Stützenfuß betrachtet. Im Rahmen der Nachweisführung werden die Einspannmomente nach Theorie I. Ordnung den Einspannmomenten nach Theorie II. Ordnung gegenübergestellt. Der Nachweis wird bei einem Zuwachs kleiner als 10 % als erfüllt angesehen.
Für Bauteile, die aufgrund eines geringen absoluten Einspannmomentes einen großen relativen Zuwachs erfahren, kann ein Mindestmoment als Schwellenwert definiert werden. Liegt die Momentenbelastung unterhalb des Grenzwertes, wird das entsprechende Bauteil von der Untersuchung ausgeschlossen.
Für die Bemessung der Holz-Ständerwände ist das BauStatik-Modul "S423.de Holz-Ständerwand" vorgesehen. Über Einbindung des Modells mit S019 in die BauStatik können aus M130.de der Wandaufbau sowie die Beanspruchungen infolge Horizontallasten übernommen werden. Übergeben werden die Scheiben- und Plattenbeanspruchungen am Wandfuß. Beanspruchungen infolge vertikaler Belastung können aus Plattenbemessungen per Lastabtrag ergänzt werden.
Bei Verwendung des StrukturEditors kann im Register "Einzel-Bauteile" ein Berechnungsmodell für den Wandnachweis mit S423.de angelegt werden. Belastungen aus Plattenberechnungen und der Aussteifungsberechnung können dann mit wenigen Klicks auf das nachzuweisende Bauteil übernommen werden.
[1] Colling, F.: Aussteifung von Gebäuden in Holztafelbauart. Ingenieurbüro Holzbau. 2. Auflage 2017
[2] DIN EN 1992-1-1:2011-01, Eurocode 2: Bemessung und Konstruktion von Stahlbeton- und Spannbetontragwerken - Teil 1-1: Allgemeine Bemessungsregeln und Regeln für den Hochbau
[3] Heuß, S.: Aussteifung unregelmäßiger Systeme. mb-news 6-2019
[4] Guth, S.: Gebäudeaussteifung mit Brettsperrholz. mb-news 3-2020
Siehe auch:
M031.de Lastmodell Gebäudehülle für MicroFe und EuroSta
M130.de MicroFe 3D Aussteifung - Massivbau-Aussteifungssysteme
M357.de Aussteifungstragwerke aus Holz-Ständerwänden
M510 Grundfrequenz, Grundschwingformen
M513 Erdbebenuntersuchung für MicroFe und EuroSta